Dies ist Teil 6 von 10 der Geschichte „Westcoast Trails“
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Antelope Canyon
Am nächsten Morgen hing noch ein Rest der Nacht in der Luft, als wir das Motel verließen. Die Welt wirkte träge, als müsste sie sich erst einmal daran erinnern, dass sie wach werden sollte. Selbst der Wind bewegte sich zögerlich, als hätte er verschlafen. Ich warf einen letzten Blick zurück auf die Felsen, die jetzt nur noch dunkle Silhouetten gegen den graublauen Himmel waren. Irgendetwas blieb dort zurück. Oder hatte etwas von uns mitgenommen, das man nicht benennen konnte.
Die Straße nach Page lag leer vor uns. Nur wir, unser Jeep und das gleichmäßige, beruhigende Brummen des Motors. Links und rechts zogen die Hügel vorbei, ihre Konturen weicher als gestern, die Rottöne heller, als hätte jemand vorsichtig Weiß untergemischt.
„Hast du schon mal Fotos von Antelope gesehen?“, fragte Toni und drehte sich halb zu mir.
„Klar. Google-Bilder halt.“
„Das zählt nicht. Du wirst sehen – das ist wie ein anderer Planet. Nur wärmer.“
„Und mit mehr Touristen.“
„Wetten, ich finde heute mindestens drei neue Freunde?“
Ich grinste. „Die Wette hast du schon gewonnen, bevor wir losgefahren sind.“
Gegen späten Vormittag erreichten wir Page. Die Sonne brannte gnadenlos, und der Wagen trug eine feine Staubschicht, die ihm fast einen goldenen Schimmer gab.
„Wir sollten den vielleicht mal waschen lassen“, meinte ich, als ich einen kleinen Kratzer an der Tür entdeckte.
Toni trat neben mich, strich mit dem Finger über den Lack. „Das sind keine Kratzer. Das sind Roadtrip-Narben. Die erzählt dir kein Autohändler.“
„Die erzählt dir aber die Werkstatt.“
„Immer dieser Realismus…“, lachte sie und deutete auf eine kleine Gruppe Menschen, die in der Sonne wartete. „Da, unsere Truppe. Los.“
Unser Navajo-Guide stellte sich als Daniel vor. Drahtig, wettergegerbt, mit einem Lächeln, das direkt Vertrauen weckte.
„You’re lucky today,“ sagte er, als wir in den offenen Jeep stiegen. „Perfect light, no clouds. The beams will be amazing.“
„Perfekt für Instagram“, rief Toni nach vorne.
„Oh, you do Instagram?“ fragte Daniel und warf einen Blick über die Schulter.
„Yes! Travel, coffee, and sometimes random sunsets from my balcony.“
Er lachte. „I like coffee. Maybe I follow you after the tour.“
„Deal. But only if you smile in at least one picture today.“
Neben uns saß ein älteres Ehepaar. Die Frau beugte sich zu Toni. „First time here?“
„Yes! You too?“
„Oh no, we come every couple of years,“ sagte sie und erzählte, dass sie früher in Flagstaff gelebt hatten. Toni wollte sofort wissen, wie es dort ist, und bekam eine halbe Liste mit Restaurantempfehlungen.
Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, während der Jeep über eine staubige Piste ruckelte.
Der Eingang zum Canyon war kaum mehr als ein schmaler Spalt im Felsen. Von Weitem hätte man ihn für einen Schatten gehalten. Doch kaum traten wir hinein, schien die Welt den Atem anzuhalten.
Es war kühler hier, der Sand unter unseren Schuhen weich wie Puderzucker. Die Wände ragten hoch, glatt und gewunden, als hätte Wasser sie über Jahrtausende in Geduld gemeißelt.
„Wow…“ Toni legte automatisch die Hand auf den Fels.
„Careful,“ meinte Daniel mit einem Augenzwinkern. „You touch the walls, you give them your energy. They keep it.“
„Then I’ll leave them a good one,“ grinste sie.
Wir gingen tiefer hinein. Plötzlich brach ein Lichtstrahl durch eine Öffnung in der Decke. Er fiel wie flüssiges Gold auf den Boden, Staubpartikel tanzten darin.
„That’s one of the famous beams,“ erklärte Daniel. „You’ll get maybe three today. Not more.“
Toni hielt die Kamera hoch. „Jonas, stell dich mal da rein!“
„Ich bin kein Model.“
„Genau deshalb! Sonst sieht’s gestellt aus.“
Ich seufzte, stellte mich trotzdem hin. Hinter uns murmelte jemand: „Looks perfect.“ Toni drehte sich um, bedankte sich bei einem jungen Pärchen aus Kalifornien – und hatte drei Minuten später deren ganze Reiseroute im Kopf.
Daniel zeigte weiter: „See here? That’s the eagle. And over there – the flame.“
„I see the eagle,“ meinte Toni, „but the flame looks like a croissant.“
Er lachte so laut, dass es im Canyon nachhallte. „Now I’m hungry.“
Ein paar Meter weiter fragte die Frau vom älteren Paar: „Do you see the woman there? With the hair flowing down?“
Toni trat vor, legte den Kopf schief. „Yes! She’s beautiful. I think she lives here.“
Ich schüttelte nur den Kopf und machte Fotos.
Je tiefer wir kamen, desto mehr schien das Licht die Farben zu wecken – Orange glühte neben Violett, Rot floss in goldene Streifen. Die Schatten waren weich wie Samt, und jeder Schritt fühlte sich an wie in einer Kathedrale aus Stein.
„So fühlt sich ein Traum an“, sagte Toni.
„Dann weck mich bitte nicht“, erwiderte ich.
Am Ende des Canyons blieb sie noch einmal stehen, sah zurück. „Da drinnen bleibt was von einem“, meinte sie leise. „Als hätte der Canyon dich… behalten.“
„Oder eingesackt.“
„Genau. Ich hoffe, er gibt’s mir zurück. Oder wenigstens mit Zinsen.“
Draußen blendete uns das Tageslicht. Die Wärme traf wie eine Wand, und der Truck wartete bereits. Toni stieg ein, blickte zu Daniel.
„Have you seen the upper canyon in rain?“
„Yes,“ sagte er und nickte ernst. „Dangerous. But beautiful. Like life.“
„I like that.“ Sie drehte sich zu mir. „Dangerous, but beautiful. Das ist eine perfekte caption.“
Ich verdrehte die Augen. „Natürlich.“
Das ältere Paar verabschiedete sich herzlich, und Toni tauschte schon Nummern mit der Frau aus – für den Fall, dass wir „mal in Kalifornien vorbeikommen“.
Horseshoe Bend
Der Weg zur Horseshoe Bend wirkte auf dem Schild am Parkplatz harmlos – nicht mal ein Kilometer. Doch schon nach den ersten Schritten im feinen, tiefen Sand war klar, dass „kurz“ hier nicht „leicht“ bedeutete. Der Wind fegte in Böen über den Hügel, trug Staub und feine Körnchen mit sich, die in der Sonne wie glitzernder Rauch tanzten.
Toni lief einige Meter voraus, Kamera um den Hals, die Sonnenbrille ins Haar geschoben. Ihr Schritt war leicht, fast spielerisch, als würde der Sand für sie nicht existieren. Ich dagegen stapfte mit der Wasserflasche in der Hand hinterher, bemüht, nicht allzu sehr wie der klischeehafte Tourist zu wirken.
„Warte mal!“, rief ich, als sie schon fast außer Rufweite war.
Sie drehte sich um, lächelte. „Komm schon, Jonas! Du musst das sehen!“
Ich schüttelte den Kopf, stapfte weiter – und bemerkte, dass sie nicht mehr allein war. Neben ihr gingen ein Mann und eine Frau, beide etwa in unserem Alter, sportlich gekleidet, jeder mit einem kleinen Rucksack.
„Seid ihr auch auf dem Weg runter?“ fragte die Frau, als ich aufschloss. Ihr Deutsch hatte einen leichten rheinischen Klang.
„Ja“, antwortete Toni sofort. „Und ihr?“
„Ja, klar. Wir sind Mara und Lukas, aus Bergisch Gladbach.“
„Toni und Jonas, aus Köln“, stellte sie uns vor.
Wir tauschten ein kurzes, herzliches Lächeln, liefen dann gemeinsam weiter. Die ersten Sätze waren vorsichtig – woher man kommt, wie lange man schon unterwegs ist, welche Stationen auf der Route liegen.
„Unser erster Stopp war San Francisco“, erzählte Mara. „Dann runter an die Küste und jetzt hier im Landesinneren.“
„Klingt wie die klassische Westküstenrunde?“, fragte ich.
„Ja, ein bisschen“, meinte Lukas. „Aber wir wollten unbedingt ein paar Sachen sehen, die nicht jeder macht.“
„Ich glaube dann seid ihr hier richtig“, sagte Toni.
Der Sand wurde flacher, der Wind jedoch stärker. Schon aus der Ferne war ein heller Streifen am Horizont zu sehen, dort, wo der Canyon begann. Wir gingen die letzten Meter fast nebeneinander, die Gespräche mischten sich mit dem Knirschen des Sandes unter den Schuhen.
Und dann standen wir am Rand.
Es war, als würde die Welt plötzlich aufklappen und ihr Inneres zeigen. Vor uns zog sich der Colorado River in einem perfekten Bogen durch den Fels – tief unten, wie mit einem einzigen Pinselstrich in die Landschaft gemalt. Das Wasser schimmerte in einem satten Türkis, durchzogen von dunklen Strömungen, während sich an den Ufern schmale grüne Streifen entlangzogen. Der Fels war nicht nur rostrot, sondern durchzogen von feinen, fast goldenen Linien, die im Sonnenlicht glühten.
„Wow…“, flüsterte Mara.
„Das ist… größer, als ich dachte“, sagte Lukas nach einer Pause.
„Heilige Scheiße“, entfuhr es mir leise.
Toni grinste. „Darf ich das als romantisch werten?“
„Wenn du willst.“
Wir setzten uns auf einen flachen Felsen, den Abgrund direkt vor den Füßen. Der Wind war kühl, trug den Geruch von trockenem Stein und Wasser mit sich. Von hier oben konnte man sehen, wie das Sonnenlicht im Wasser flackerte, als würde jemand darunter mit Spiegeln spielen.
„Das wirkt fast unecht“, sagte Mara. „Wie ein Foto, nur dass man den Wind spürt.“
„Ja“, meinte Toni. „Und dass man die Höhe im Bauch fühlt.“
„Wie tief ist das eigentlich?“ fragte ich in die Runde.
„Über dreihundert Meter, glaub ich“, sagte Lukas. „Hab ich mal gelesen.“
„Da unten wär’s jetzt bestimmt angenehm kühl“, meinte Toni.
„Und nass“, ergänzte ich.
Wir lachten kurz, und für einen Moment war es einfach nur angenehm still.
„Macht ihr auch einen längeren Roadtrip?“ fragte Lukas schließlich, als wir uns erhoben.
„Ja“, antwortete Toni. „Aber ohne festen Plan. Wir lassen uns treiben.“
„Das klingt gut“, sagte Mara. „Vielleicht läuft man sich ja nochmal über den Weg.“
„Die Welt ist klein“, erwiderte ich.
Auf dem Rückweg liefen wir wieder zu viert, diesmal etwas lockerer. Wir sprachen über andere Orte, die wir noch sehen wollten, und tauschten ein paar Tipps aus – nicht zu viele, gerade genug, um zu merken, dass man sich sympathisch war.
Als wir am Parkplatz ankamen, verabschiedeten wir uns. „Vielleicht sieht man sich ja in Page oder irgendwo unterwegs“, meinte Mara.
„Das wär schön“, sagte Toni.
Und während sie zu ihrem Wagen gingen, sah ich, wie Toni ihnen noch kurz nachwinkte – mit diesem Blick, der verriet, dass diese Begegnung noch nicht ganz zu Ende war.
Weiter zum nächsten Teil: Westcoast Trails – Teil 7
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