Dies ist Teil 7 von 10 der Geschichte „Westcoast Trails“
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Route 66 & die Geisterstadt Nelson
Der Tag begann mit lauter Countrymusik im Jeep – nicht freiwillig, sondern weil der Lautstärkeregler seit gestern endgültig den Geist aufgegeben hatte. Eine kratzige Stimme sang von „open roads“ und „old whiskey“, während Toni mit den Fingern im Takt aufs Armaturenbrett tippte.
„Ich schwöre, wenn das Lied noch einmal kommt, singe ich mit“, drohte ich.
„Bitte nicht“, grinste sie. „Das könnte uns in den nächsten Bundesstaaten Einreiseverbote bringen.“
Die Straße war leer, der Asphalt zog sich wie ein endloses Band vor uns her. Plötzlich zeigte Toni nach vorn. „Da! Siehst du das?“
In der Ferne leuchtete auf dem Asphalt ein riesiges, weiß aufgemaltes Route-66-Logo. Es war so groß, dass man es schon aus Dutzenden Metern Entfernung erkennen konnte.
„Da müssen wir anhalten“, sagte sie, noch bevor ich etwas erwidern konnte.
„Mitten auf der Straße?“, fragte ich.
„Es ist eh keiner hier. Außerdem… wann kriegst du schon so ein Foto?“
Ich bremste ab, rollte langsam über das Logo und parkte den Jeep so, dass er am Straßenrand stand. Der Wind zerrte an unseren Klamotten, als wir ausstiegen.
„Stell dich drauf“, befahl Toni, während sie schon ihre Kamera ausrichtete.
„Was machst du, wenn ein Truck kommt?“
„Dann renne ich. Aber vorher krieg ich mein Bild.“
Ich stellte mich mitten auf das Logo, breitete die Arme aus und blickte in die Ferne.
„Lächeln!“, rief sie.
„Ich lächle innerlich.“
„Nicht gut genug. Mach mal was Cooles.“
Ich sprang hoch, und sie drückte im richtigen Moment ab. Danach tauschten wir – ich hielt die Kamera, sie stellte sich barfuß aufs Logo, die Schuhe lässig in der Hand, das Haar vom Wind zerzaust.
„Perfekt“, sagte ich. „Sieht aus wie ein Werbeplakat.“
„Besser. Das ist echt.“
Wir stiegen wieder ein, und wenige Kilometer später tauchte am Straßenrand ein verwittertes Holzschild auf: Nelson – Next Right.
„Das klingt nach Abenteuer“, meinte Toni.
„Oder nach Horrorfilm.“
„Beides ist okay.“
Der Weg führte uns in einen kleinen Ort, der aussah, als hätte er seit Jahrzehnten keine Eile mehr. Staubige Straßen, windschiefe Holzhäuser, eine verrostete Zapfsäule mitten im Nirgendwo. Alte Pick-ups standen vor den Fassaden, als warteten sie darauf, dass ihre Besitzer gleich mit einer Schaufel und einer Geschichte zurückkommen würden.
Und dann sahen wir sie – Esel. Überall.
Sie standen im Schatten der Häuser, trotteten gemächlich über die Straße oder schauten neugierig zu uns herüber, als wollten sie prüfen, ob wir Leckerlis dabeihatten. Einer schubste sanft gegen Tonis Hüfte, als sie an ihm vorbeiging.
„Na du?“, lachte sie und kraulte ihm vorsichtig den Hals.
„Ich glaube, er will dein Wasser“, sagte ich.
„Oder mich.“
„Klingt nach Liebe auf den ersten Blick.“
Wir gingen die Hauptstraße entlang, vorbei an einem Baum, an dem eine alte Schaukel langsam im Wind schwang. Das Klappern eines losen Blechs hallte zwischen den Fassaden.
„Wenn jetzt jemand mit einer Axt aus der Tür kommt, renn ich“, sagte ich.
„Und ich bin wieder die Mutige?“
„Wie immer.“
Ein kleines Holzhaus mit einem handgemalten „Open“-Schild zog unsere Blicke auf sich. Drinnen roch es nach altem Holz und ein wenig nach Motoröl. Hinter der Theke saß ein älterer Mann mit wettergegerbtem Gesicht und einem Cowboyhut, der mindestens so viele Jahre gesehen hatte wie er selbst. In seinem Mundwinkel steckte ein geknickter Strohhalm.
„You folks just lookin’?“ fragte er mit rauer Stimme.
„Just takin’ pictures… and maybe petting the donkeys“, antwortete Toni mit einem Lächeln.
Er lachte leise. „Well, they belong to the ghosts as much as the town. Just don’t wake either of them.“
„We’ll try“, versprach sie.
Als wir wieder hinausgingen, standen zwei Esel mitten auf der Straße und blockierten den Weg zum Jeep. Sie schauten uns an, als wollten sie sagen: Und? Was habt ihr für uns? Toni fütterte sie mit ein paar Apfelstücken aus unserem Proviant, während ich den Moment fotografierte.
„Seltsam, oder?“ sagte sie, als wir wieder im Jeep saßen. „Hier muss mal richtig was los gewesen sein. Und jetzt… nur Staub, Esel und ein paar Geschichten.“
„Vielleicht wartet der Ort nur“, meinte ich.
„Worauf?“
„Auf die richtigen Leute.“
Sie sah mich an, lächelte und schüttelte den Kopf. „Du bist heute philosophisch.“
„Muss an der Route 66 liegen.“
Im Rückspiegel sah ich noch, wie der Cowboyhut-Mann in der Ladentür stand, die Esel daneben – und für einen kurzen Moment wirkte es, als würde Nelson uns nachsehen.
Palm Springs
Der Weg nach Palm Springs fühlte sich fast meditativ an. Die Straße war so gerade, dass sie wie mit einem Lineal gezogen wirkte, und in der Ferne flimmerten die Berge im goldenen Spätnachmittagslicht. Die Hitze stand schwer über dem Asphalt, als wolle sie uns prüfen, ob wir wirklich bis ans Ende fahren würden.
Der Grand Cherokee schnurrte unter uns, staubig vom letzten Abschnitt Route 66, aber treu wie immer.
Toni legte die Füße aufs Armaturenbrett, streckte sich und seufzte. „Ich fühl mich, als würden wir in einen Backofen fahren.“
„Ist ja auch einer“, murmelte ich, griff nach meiner Wasserflasche und reichte sie ihr.
„Danke.“ Sie nahm einen Schluck, wischte sich den Mund ab. „Wenn wir ankommen, will ich nur eins: Wasser. Aber bitte nicht aus der Flasche.“
„Pool?“
„Pool.“ Sie grinste. „Und vielleicht ein Cocktail. Irgendwas mit zu viel Eis und einem albernen Schirmchen.“
Als die ersten Palmen am Straßenrand auftauchten, war es, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Die Luft roch anders – warm, süßlich, und mit einem Hauch von etwas Blumigem. Weiße, flache Häuser mit knallbunten Türen tauchten auf, dahinter makellos geschnittene Rasenflächen, die aussahen, als hätte jeder Grashalm einen eigenen Stylisten.
„Sieht aus wie ein Filmset“, sagte ich.
„Nur ohne Regisseur“, meinte Toni und drückte die Nase ans Fenster.
Unser Motel lag in einer ruhigen Seitenstraße. Von außen wirkte es schlicht, aber der Innenhof überraschte uns – in der Mitte ein kleiner Pool, umrahmt von Palmen, ein paar Liegen, auf denen bunte Handtücher lagen, die in der Abendsonne trockneten.
Wir warfen die Taschen aufs Bett, wechselten wortlos in Badesachen und sprangen direkt ins Wasser. Es war fast lauwarm, aber nach den letzten Tagen zwischen Sand, Staub und Wüstenwind fühlte es sich an wie eine persönliche Einladung zur Erholung.
Toni tauchte auf, strich sich das Wasser aus dem Gesicht und lächelte. „Genau dafür bin ich geboren.“
„Zum Planschen?“
„Nein“, sagte sie und ließ sich auf dem Rücken treiben, „zum Genießen.“
Ich setzte mich auf den Beckenrand, ließ die Beine ins Wasser hängen und sah ihr zu. Über uns begann der Himmel, sich langsam von Blau zu Orange zu färben.
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Am Abend schlenderten wir die kleine Hauptstraße entlang. Lichterketten spannten sich von Laden zu Laden, und der Duft von frisch gegrillten Tacos lag in der warmen Luft.
„Ich riech Koriander“, sagte Toni.
„Ich riech Hunger.“
Wir folgten unseren Nasen zu einem Straßenstand, wo ein Mann mit Cowboyhut Fleisch auf einer heißen Platte wendete.
„Two tacos each?“ fragte er.
„Three for me“, grinste Toni.
Wir setzten uns auf eine Bank am Straßenrand und aßen, während ein Straßenmusiker ein paar Meter weiter „Can’t Help Falling in Love“ spielte – im weißen Elvis-Anzug und mit einer Sonnenbrille, die vermutlich mehr wog als seine Gitarre.
Toni wischte sich mit einer Serviette den Mund ab und rief ihm zu: „You’re the real King!“
Er lachte, verbeugte sich leicht und spielte den nächsten Akkord extra laut.
Später entdeckten wir einen kleinen Laden voller Hüte – von schlicht bis völlig übertrieben. Toni probierte drei an, entschied sich schließlich für einen riesigen Sonnenhut mit breiter Krempe.
„Der bleibt“, sagte sie, als wir den Laden verließen. „Das ist jetzt mein amerikanischer Hut.“
„Und wann trägst du den?“, fragte ich.
„Immer, wenn ich cool aus dem Auto steigen will.“
Ich grinste. „Also nie.“
„Pass auf, sonst fahr ich beim nächsten Abschnitt“, lachte sie – und wir gingen weiter durch die warme Nacht, begleitet vom Surren der Ventilatoren und dem fernen Klirren von Gläsern aus den Bars.
Die Sonne war noch nicht lange aufgegangen, als wir das Motel am nächsten Morgen verließen. Die Luft war warm, aber noch erträglich – man konnte fast vergessen, dass es später wieder brütend heiß werden würde.
Wir fanden ein kleines Diner an der Ecke, dessen Neonzeichen „OPEN“ in pinken Buchstaben blinkte. Drinnen roch es nach frischem Kaffee, gebratenem Speck und einer Spur von Vanille.
Eine ältere Kellnerin mit Namensschild „Marge“ kam an unseren Tisch, Block in der Hand. „Mornin’, sweethearts. Coffee?“
„Yes, please“, sagten wir gleichzeitig.
„You’re not from around here, huh?“ fragte sie, während sie zwei dampfende Tassen abstellte.
„Nope, Germany“, antwortete Toni.
„Well, welcome to Palm Springs. Best pancakes in town, if I may say so.“
„Then we’ll have to try them“, sagte ich.
Marge grinste und verschwand in Richtung Küche. Toni lehnte sich zurück, nahm einen Schluck Kaffee und seufzte zufrieden. „Ich liebe solche Orte. Einfach, herzlich, und der Kaffee schmeckt immer gleich – stark und ohne Schnickschnack.“
„Und mit unbegrenztem Nachfüllen“, fügte ich hinzu.
Das Frühstück kam schnell – ein Stapel goldbrauner Pancakes mit Butter, Ahornsirup und frischen Erdbeeren. Dazu Rührei und knuspriger Speck.
„Das ist Urlaub“, sagte Toni, während sie den Sirup über den Pancakes verteilte.
„Das ist Diabetes in drei Bissen.“
„Ach, heute zählt nicht.“
Wir aßen, während draußen langsam die Hitze zunahm und die ersten Sonnenstrahlen die Palmen in gleißendes Licht tauchten. Als wir das Diner verließen, hielt Marge uns an der Tür noch einmal auf.
„Y’all enjoy your trip now – and drink lots of water,“ rief sie uns nach.
„We will“, sagte Toni und winkte.
Und so stiegen wir wieder in den Jeep, der schon in der Morgensonne warm geworden war – bereit für den nächsten Abschnitt unserer Reise.
Weiter zum nächsten Teil: Westcoast Trails – Teil 8
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