Westcoast Trails, Teil 1: San Francisco & Yosemite – Zwischen Nebel und Granit

Dies ist Teil 1 von 10 der Geschichte „Westcoast Trails“

San Francisco

Es war schon Mitte September. Der Nebel hing tief über der Stadt, als wir aus dem Terminal am SFO, dem Flughafen in San Francisco, traten. Der Wind war kühl, fast schneidend, obwohl wir in Kalifornien waren. Toni zog ihre Kapuze hoch, während ich die Koffer auf den wackeligen Wagen wuchtete.

„Willkommen am anderen Ende der Welt“, sagte ich und atmete die salzige Luft ein.

Sie grinste schief. „Genau so hab ich’s mir vorgestellt. Grau, windig, und irgendwie trotzdem perfekt.“

Wir gingen zur Autovermietung und bekamen innerhalb weniger Minuten den Schlüssel zu unserem neuen Abenteuerbegleiter. Wir gingen raus und auf dem Parkplatz stand er dann: der dunkelrote Grand Cherokee. Der Lack glänzte, als hätte ihn jemand frisch poliert, und der Schlüssel in meiner Hand fühlte sich schwer und wichtig an.

„Schickes Teil“, sagte ich.

„Mehr Auto als wir brauchen“, antwortete Toni und schwang sich auf den Beifahrersitz. „Aber hey – wer weiß, in welchem Park man Allrad gut gebrauchen kann.“

Wir verbrachten die ersten beiden Tage damit, San Francisco größtenteils zu Fuß zu erkunden. Wir gingen zum Fisherman’s Wharf, dort roch es überall nach gebratenem Fisch und süßem Popcorn. Möwen kreischten über uns, während Toni unbedingt an jeder Souvenirbude stehen bleiben musste. Sie kaufte eine Basecap mit SF-Logo, setzte sie auf und sagte: „So, jetzt bin ich auch ein Touri mit Stil.“

Wir fuhren mit der Cable Car. Toni stand vorne, direkt an der offenen Seite, die Hände fest um die Haltestange geklammert, das Gesicht dem Wind entgegen. Ihr Lachen mischte sich mit dem metallischen Rattern der Bahn, während sie sich ruckelnd die steilen Hügel von San Francisco hinaufschob.

„Das ist wie Achterbahn, nur mit mehr Stil!“, rief sie mir zu, die Haare wild im Wind. Ich grinste und hielt mich mit einer Hand fest, während ich mit der anderen versuchte, ein halbwegs gerades Foto zu machen.

Oben angekommen standen wir auf der Lombard Street. Die Serpentinen lagen wie eine gemalte Linie zwischen blühenden Hortensien und akkurat gestutzten Hecken. Autos bewegten sich langsam im Zickzack bergab, Touristen drängten sich auf den Gehwegen, Selfie-Sticks ragten in alle Richtungen.

„Wetten, dass mindestens einer heute hier rückwärts runterrollt?“ fragte Toni und stützte sich auf das Geländer.

„Und wetten, dass du’s filmst, bevor du hilfst?“

Sie lachte. „Kommt drauf an, wie spektakulär es aussieht.“

Ein älteres Pärchen neben uns mischte sich ein. “First time in San Francisco?” fragte der Mann, sein Akzent klang nach Boston.

“Yeah, it’s our first day,” antwortete Toni, noch bevor ich Luft holen konnte. “It’s kinda crazy, but so beautiful! Do you guys live around here?”

“Our daughter does. We’re just visiting,” sagte die Frau und zeigte den Hügel hinab. “She makes sure every tourist ends up here at least once.”

“Oh, I get that,” sagte Toni und lachte. “If it were up to me, we’d come back tomorrow. Just to see the flowers again. They’re unreal!”

Sie unterhielten sich noch ein paar Minuten, tauschten Tipps über Frühstücksorte aus, während ich die Straße fotografierte.

Später liefen wir über die Golden Gate Bridge. Die Sonne stand tief, warf lange Schatten über das rostrote Stahlgerüst. Unter uns das dumpfe Grollen des Verkehrs, über uns kreischten Möwen. Der Wind war schneidend und trug den Geruch von Salz und Metall mit sich.

„Ich hab mir das größer vorgestellt“, sagte ich, halb gegen den Wind sprechend.

Toni drehte sich zu mir. „Du bist auch größer, als ich mir vorgestellt hab – hat mich trotzdem nicht gestört.“

Ich schnaubte. „Hast den romantischen Moment ruiniert.“

„Ach Quatsch. Das hier ist unsere Golden-Gate-Love-Story. Du frierst, ich rede zu viel, wir verlieren fast meine neue Cap, und alles ist perfekt.“

Ein junger Typ mit Rucksack blieb neben uns stehen. „Excuse me, can you take a picture of me? With the bridge?“

Toni nickte sofort. „Of course! But you gotta do something cool. Jump maybe?“

„Jump?! Okay, I trust you!“ Er sprang, sie lachte, machte das Foto, zeigte es ihm.

„That’s awesome! You’re a pro!“ sagte er. „You from New York or something?“

„Germany“, sagte sie. „But New York energy, I’ve been told.“

Er lachte. „Well, enjoy San Francisco. Don’t miss the sunset from Ocean Beach.“

Toni drehte sich zu mir. „Na? Sunset am Ocean Beach?“

Ich nickte. „Wenn wir nicht vorher weggeweht werden.“

Und so saßen wir wenig später am Ocean Beach. Der Sand war kühl geworden, wir hatten uns in unsere Jacken gewickelt, dampfender Kakao in den Händen. Der Himmel brannte in Orangetönen, während sich langsam der Nebel vom Meer heranschob.

Toni beobachtete eine Familie, die ein Lagerfeuer am Strand gemacht hatte. Kinder rannten kreischend durch den Sand, ein kleiner Hund bellte begeistert.

„Ich liebe das hier“, sagte sie leise. „Wie entspannt alle sind. Und der Nebel ist wie ein Vorhang, der den Tag abschließt.“

Ich nahm einen Schluck Kakao. „Du redest manchmal, als wärst du ein Gedicht auf zwei Beinen.“

Sie lächelte. „Du liest mich aber auch jeden Tag.“

Wir lachten beide eine Weile. 

„Findest du nicht auch, dass die Luft hier anders riecht?“, fragte sie.

„Salziger“, antwortete ich.

„Freier“, meinte sie leise.

Der Nebel verschluckte langsam die letzten Konturen der Brücke. Die Lichter flackerten wie entfernte Erinnerungen am Horizont. Toni lehnte sich an mich. Ich legte den Arm um sie. Und für einen Moment gab es wirklich nur uns, diesen Strand, den Geschmack von Kakao – und das Gefühl, angekommen zu sein.

Yosemite

Zwei Tage später fuhren wir Richtung Osten. Der Nebel, der uns an der Küste ständig begleitet hatte wie ein stiller Mitreisender, löste sich langsam auf, als wir San Francisco hinter uns ließen. Die Luft wurde trockener, der Himmel klarer, und das satte Grün der Küste wich staubigen Hügeln und flirrenden Weiten.

Wir machten kurz Halt in einem Diner irgendwo im Nichts – rote Lederbänke, ein verwittertes Schild an der Tür, das “Home of the Best Pie in California” versprach. Drinnen roch es nach Frittierfett und Vanille. Toni bestellte Kaffee und einen riesigen Blaubeer-Muffin, redete mit der Bedienung über das alte Elvis-Poster an der Wand, als würden sie sich seit Jahren kennen.

„We’re heading to Yosemite“, sagte Toni, als sie nach dem Weg fragte.

„Then you’re in for something real special,“ meinte die Frau. „Just don’t feed the bears. Or the tourists.“

Toni grinste. „No promises.“

Je näher wir dem Park kamen, desto eindrucksvoller wurde die Landschaft. Die Straße wand sich durch dichte Kiefernwälder, und immer wieder tauchten zwischen den Baumkronen massive Granitwände auf – erst weit entfernt, dann so nah, dass sie den Himmel zerschnitten. Die Sonne schickte lange, goldene Strahlen durch die Bäume, und der Asphalt glänzte vom Hitze flirren.

„Siehst du das?“, rief Toni und lehnte sich halb aus dem Fenster. „Das ist doch nicht echt!“

Ich bremste am nächsten Aussichtspunkt. Von hier oben öffnete sich das Tal wie ein riesiges Amphitheater. Unten glitzerte der Merced River zwischen dunklen Felsen, und über allem thronten die steilen Granitwände von El Capitan und Half Dome – riesig, stumm und fast unheimlich still.

„Postkartenmaterial“, sagte ich. Es war das Einzige, was mir einfiel.

Toni kletterte ohne zu zögern über die hölzerne Absperrung und setzte sich auf einen Felsen, die Beine baumelten über dem Abgrund.

„Ey, mach nicht immer so einen Quatsch, das kann echt gefährlich werden!“

„Komm schon“, rief sie. „Hab nicht immer so eine Angst.“

„Das sagst du so leicht“, flüsterte ich fast, während ich mich mit wackeligen Knien neben sie setzte. Der Abgrund unter uns war tief und still, als würde er den Atem anhalten.

Wir verbrachten den ganzen Tag im Park. Wanderten zu den Yosemite Falls, wo das Wasser donnernd in die Tiefe stürzte und feiner Nebel in der Sonne tanzte. Später saßen wir auf einem umgefallenen Baumstamm im Schatten riesiger Mammutbäume im Mariposa Grove – ehrfürchtig, fast andächtig still.

„Die stehen hier seit tausend Jahren“, murmelte Toni. „Und trotzdem passiert denen nichts, wenn wir gehen.“

Ich verstand erst später, was sie meinte.

Am Nachmittag fuhren wir weiter zum Glacier Point. Der Ausblick raubte uns den Atem. Die Sonne stand tief, das ganze Tal lag in goldenem Licht. Der Half Dome war zum Greifen nah. Toni redete mit einem Paar aus Oregon, das hier zum zehnten Mal war, und ließ sich Tipps für die besten Trails geben. Ich saß einfach da und sah zu, wie der Tag langsam verblasste.

Abends zogen wir uns in eine kleine Cabin am Waldrand zurück. Kaum Empfang, kein WLAN, nur knarzende Holzdielen, der Geruch von Kiefernharz und ein kleiner Kamin, in dem das Holz knisterte. Irgendwo in der Ferne hörten wir Kojoten heulen.

Toni lag auf dem Bauch im Bett, das Gesicht vom Licht des Bildschirms der Kamera erleuchtet, während sie durch ihre Fotos scrollte. Ihre Haare fielen ihr ins Gesicht, aber sie schob sie nicht weg.

„Ich hab das Gefühl, als würde ich hier mehr Luft bekommen“, sagte sie leise. „Als würde ich zuhause immer nur halb atmen.“

Ich drehte mich zu ihr. „Und jetzt?“

Sie grinste, ohne aufzusehen. „Jetzt atme ich richtig.“

Am nächsten Morgen wachten wir früh auf – nicht, weil ein Wecker klingelte, sondern weil das erste Licht durch die Holzlamellen unserer Cabin kroch. Draußen dampfte der Boden noch von der kühlen Nacht, und über den Baumwipfeln hing ein feiner Nebelschleier, der sich langsam auflöste, als die Sonne stieg.

Toni stand barfuß auf der kleinen Veranda, die Kaffeetasse in beiden Händen. Ihr Blick ging in die Bäume, aber ich wusste, dass sie gedanklich längst schon unterwegs war.

„Lass uns heute einfach loslaufen“, sagte sie, ohne sich umzudrehen. „Nicht denken. Nur laufen.“

Also packten wir Wasser, Nüsse, die Kamera und eine kleine Decke in den Rucksack und fuhren los – diesmal tiefer hinein in den Park. Wir hielten am Tenaya Lake. Das Wasser war glatt wie Glas, eingerahmt von Felsen und Kiefern, als hätte jemand ein Bergpanorama auf Pause gedrückt.

Der Weg, den wir nahmen, war nicht offiziell ausgeschildert. Ein Ranger hatte ihn Toni am Vorabend auf der Karte gezeigt. “You’ll know it when you see it,” hatte er gesagt. Und wir sahen es.

Nach einer halben Stunde stießen wir auf eine kleine Lichtung mit Blick auf das halbe Tal. Flach, sonnig, perfekt für eine Pause. Und wir waren nicht allein.

Ein paar Meter entfernt saßen zwei Frauen auf einer Decke. Die eine las, die andere schnitt gerade etwas Obst in eine Schale – Ananas, Melone, Mango.

„Das riecht viel zu gut, um nicht Hallo zu sagen“, meinte Toni und ging einfach rüber.

Ich blieb kurz sitzen, lauschte dem Gespräch, das sich ganz natürlich ergab – Englisch, ein bisschen Deutsch dazwischen. Es stellte sich heraus, dass sie aus den Niederlanden waren, seit drei Wochen unterwegs mit einem kleinen Mietwagen, Campingausrüstung im Kofferraum, voller Geschichten.

„You guys want some fruit? We brought too much anyway,“ sagte die eine – ihr Name war Elise, Mitte dreißig, wilde Locken, lautes Lachen.

„Only if we get a story in return“, grinste Toni.

„Deal“, sagte die andere, Janna. „But it’s a long one. We got lost near Lake Tahoe, found an abandoned shack and accidentally spent the night there. Not on purpose.“

Ich kam rüber, setzte mich neben Toni auf die Decke. Der Boden war warm vom Sonnenlicht, und während wir Mango aßen, erzählten sie von Regen in Utah, von heißen Quellen irgendwo in Oregon, von einer Polizeikontrolle in Nevada, die völlig aus dem Ruder lief – auf gute Weise.

„Travelling like this makes the world feel small,” sagte Elise irgendwann. „And huge at the same time.“

„Exactly,“ sagte Toni. „Wie kann man sich da jemals wieder zu Hause fühlen?“

Janna zuckte die Schultern. „Maybe you don’t. Maybe you just carry the places with you.“

Der Wind wurde kühler. Die Sonne stand schon tief, und die Schatten der Felsen rückten näher. Wir verabschiedeten uns, nahmen ihre Kontakte mit – „Just in case you ever come to Amsterdam!“ – und schauten ihnen nach, wie sie den Hang hinabgingen, beide mit einem leichten, federnden Schritt, als hätten sie die Schwerkraft vergessen.

Toni legte den Kopf an meine Schulter. „Ich liebe solche Begegnungen.“

Ich nickte. „Ich auch. Weil sie sich anfühlen wie… wie kleine Fenster.“

„Oder wie Wegweiser“, sagte sie. „Weißt du? Als würde jemand kurz durchblicken und nicken: Da lang.“


Weiter zum nächsten Teil: Westcoast Trails – Teil 2

8 Gedanken zu “Westcoast Trails, Teil 1: San Francisco & Yosemite – Zwischen Nebel und Granit

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