Dies ist Teil 2 von 3 der Geschichte „Wenn die Wolken flüstern“
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Der Steg der Träume – Wenn du dich wiederfindest
Wir tanzen, bis die Wolken selbst anfangen mitzuwippen
Unter meinen Füßen vibriert der Steg, als würde er unser Lied kennen. Er glüht in einem sanften Rhythmus, als atme er mit uns. Ich höre kein Orchester, keinen Takt — nur den Wind, der mit unseren Bewegungen spielt, ihn hierhin und dorthin wirbelt, als wäre er unser heimlicher Dirigent.
Irgendwann bleibt Luma stehen. Ihre silbernen Haare kleben leicht an ihrer Stirn, als hätten sie den Tanzschweiß nicht mal bemerkt. Sie atmet flach, als wäre Müdigkeit hier nicht vorgesehen.
„Genug geträumt?“ fragt sie, mit schiefgelegtem Kopf.
„Ich dachte, darum geht’s hier.“
„Darum geht’s immer.“ Sie zwinkert, greift wieder nach ihrer Laterne und deutet auf einen schmalen Gang im Nebel, der bisher unsichtbar war. „Aber du bist nicht nur hier, um zu träumen, Elian. Du bist hier, um zu sehen.“
Der Nebel der vergessenen Träume
Der Gang wird enger, die Luft schwerer, dichter, fast süß. Der Nebel um uns herum schimmert jetzt dunkler, mit einem leisen violetten Glanz, als stünden wir tief im Inneren eines gewaltigen Amethysts. Überall hängen schwebende Bilderrahmen, die wie aus Quecksilber gegossen scheinen — doch die Glasflächen darin sind leer. Nur flackernde Schatten huschen durch sie, als würden sie zögern, gesehen zu werden.
„Das hier sind deine vergessenen Träume,“ erklärt Luma, während sie die Finger sacht über einen Rahmen streichen lässt. Das Glas erwärmt sich, und plötzlich glüht darin ein Bild auf: Ein kleiner Junge mit schmutzigen Knien, der in der Krone eines Apfelbaums sitzt, lachend, mit einem Holzschwert, das er gegen die Wolken richtet.
„Das bin ich,“ sage ich heiser. „Das… das war in Omas Garten.“
„Und?“ fragt sie. „Wann bist du das letzte Mal auf einen Baum geklettert?“
Der große Traumfresser
Wir gehen weiter, vorbei an mehr Bildern: Ich, wie ich einen Drachen steigen lasse. Ich, wie ich eine schillernde Seifenblase fange. Ich, wie ich Sterne zähle.
„Und warum hast du es vergessen?“ fragt Luma.
„Weil… ich keine Zeit mehr dafür hatte. Weil es albern war.“
„Weil du dachtest, es sei nicht wichtig.“ Luma sieht mich ernst an. „Aber das ist es, Elian. Es ist alles.“
Der schwarze Rahmen
Wir bleiben vor einem besonders großen Rahmen stehen. Er ist pechschwarz, und allein sein Anblick schnürt mir die Kehle zu. Irgendetwas darin wartet.
„Mach auf,“ sagt sie.
Meine Hand zögert. Dann berühre ich den Rahmen. Ein Schock. Ein Sog.
Ich stehe auf einer Bühne. Scheinwerfer blenden mich. Vor mir: ein endloses Meer von Gesichtern. Stille.
„Ich kenne das,“ flüstere ich.
„Natürlich. Das ist dein größter Traum. Und deine größte Angst.“
„Ich… wollte immer vor Menschen sprechen. Etwas sagen, das bleibt.“
„Und?“
„Ich hab’s nie gemacht.“
„Warum?“
„Weil ich Angst hatte.“
„Das ist kein Grund, es nicht zu tun.“
Die Brücke ins Unbekannte
Der Nebel reißt auf. Wir stehen wieder an der Kreuzung: Nebel oder Brücke. Dieses Mal leuchtet die Brücke so hell, dass ich die Augen zusammenkneifen muss.
„Jetzt bist du soweit,“ sagt sie. „Die Zukunft wartet.“
„Was, wenn ich falle?“ frage ich.
„Dann träumst du dich zurück.“
Ich setze den ersten Fuß auf die Brücke. Der Boden fühlt sich warm an, wie Haut. Mit jedem Schritt leuchten darunter Spiralen, Runen, Symbole, die ich nicht kenne, aber verstehe.
Der Blick nach vorn
„Hier siehst du, was noch kommen kann,“ erklärt Luma leise.
Vor mir steigen Bilder auf: Ich in einer Hütte am Meer, schreibend und lachend. Ich in einem Park, umringt von Kindern. Ich auf einer Bühne, ohne Angst. Ich im Regenwald, barfuß.
„Alles ist möglich?“ frage ich.
„Alles. Aber du musst es wählen.“
„Wohin führt die Brücke?“
„Nach Hause. Aber anders.“
„Und du?“ frage ich. „Kommst du mit?“
„Ab hier… gehst du allein.“
„Aber ich kenne den Weg doch nicht!“
„Doch. Hier.“ Sie legt ihre Hand auf mein Herz.
Wach
Ich drehe mich zur Brücke. Sie leuchtet jetzt so hell, dass es mich fast blendet.
„Werde ich dich wiedersehen?“ frage ich.
„Immer. Solange du träumen kannst.“
Ich mache den nächsten Schritt.
Als ich die Augen wieder öffne, stehe ich in meinem Zimmer. Die Morgendämmerung dringt durchs Fenster. Es riecht nach Sommerregen.
Auf meinem Nachttisch liegt eine kleine, silberne Feder.
Ich nehme sie in die Hand, und plötzlich ist alles wieder da: Die Wolken. Die Bühne. Der Steg.
Ich blicke in den Spiegel.
Und flüstere:
„Ich bin wach.“
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