Ich erinnere mich noch genau an den Abend, an dem sich alles verändert hat. So deutlich, dass ich heute noch das schimmern des nassen Asphalts vor Augen habe, wenn ich daran denke. Es roch nach Regen, dieser Mischung aus Erde, Stein und Strom. Ich verließ zum letzten Mal mein kleines Büro im zweiten Stock der Corneliusstraße.
Ich hielt den Griff noch einen Moment länger fest, als nötig. In meinen Fingern spürte ich das raue, abgesplitterte Holz, dort, wo die Tür seit Monaten schon einen Riss hatte. So oft betrat ich das Büro vor 6 Uhr morgens, bevor die Nachbarn überhaupt wach waren, so oft ging ich erst weit nach Mitternacht wieder nach Hause. Ein leises Knarren, dann fiel sie hinter mir ins Schloss, dumpf und endgültig.
Die Stadt summte draußen wie ein riesiger Bienenstock. Autos huschten vorbei, Lichter spiegelten sich in den Pfützen auf dem Gehweg. Ich blieb einfach stehen. Die eine Hand in der Jackentasche, das Handy in der anderen, mein Herz noch irgendwo zwischen Brustkorb und Rachen.
Auf dem Display leuchtete noch immer die letzte Nachricht von meinem Anwalt:
„Es ist durch. Sie haben schon Überwiesen. Schauen sie auf ihr Konto. Herzlichen Glückwunsch.“
Ich starrte auf die Zahlen, wieder und wieder.
Eine Summe, die ich vorher nur aus Magazinen oder von Tech-Börsen kannte. So viele Nullen, dass ich beim ersten Blick dachte, sie hätten sich vertippt.
„Alter…“, murmelte ich leise vor mich hin und schüttelte den Kopf. „Das kann doch nicht echt sein.“
Ein Paar, das gerade an mir vorbeilief, sah mich kurz irritiert an. Sie hielten sich an den Händen, sie lachte leise, während er seinen Regenschirm schief hielt, damit sie drunter passte.
„Alles okay bei dir?“ fragte er im Vorbeigehen, ohne stehenzubleiben.
„Ja. Ja, alles super“, antwortete ich automatisch, obwohl meine Stimme etwas zu hoch klang, fast nervös.
Als sie weg waren, schob ich das Handy wieder in die Jackentasche und atmete tief durch. Ich hörte meinen eigenen Atem in der kalten Luft.
Ich drehte mich noch einmal um, zurück zum Bürofenster im zweiten Stock. Dort oben brannte noch Licht. Ich konnte den Schreibtisch erahnen, auf dem noch immer mein Monitor stand, neben einem leeren Kaffeebecher, zerknülltem Papier, einer Packung Traubenzucker. All die Dinge, die mich die letzten Jahre begleitet hatten. Nächte, in denen ich dort saß, den Kopf in den Händen, weil der Server schon wieder abgestürzt war. Morgende, an denen ich viel zu früh zurückkam, weil ich glaubte, ich könnte den Tag irgendwie retten, wenn ich nur eher anfange.
Mein Hals wurde eng. Plötzlich kamen all die Stimmen in meinem Kopf zurück: meine Eltern, die mir sagten, ich solle „was Richtiges“ lernen. Meine Freunde, die mich in der Kneipe auslachten, weil ich immer mit dem Laptop aufkreuzte. „Ey, du bist doch kein Zuckerberg, Mann“, hatten sie damals gesagt.
„Und jetzt?“, fragte ich halblaut in die Nacht.
Die Worte hingen einfach da. Ein Taxifahrer auf der anderen Straßenseite zog fragend eine Augenbraue hoch, als hätte ich ihn angesprochen. Ich winkte nur ab.
Mein Handy vibrierte. Es war Felix, mein Mitgründer. Er klang genauso atemlos wie ich, als ich ran ging.
„Hast du’s gesehen?“ Seine Stimme überschlug sich fast.
„Hab ich.“ Ich musste grinsen, obwohl mein Bauch immer noch flatterte. „Ich… ich weiß nicht, was ich sagen soll.“
„Sag einfach: Scheiße, wir haben’s geschafft!“ lachte er ins Telefon.
„Scheiße“, wiederholte ich leise. „Wir haben’s wirklich geschafft.“
Einen Moment lang sagten wir beide nichts. Man konnte hören, wie er eine Zigarette anzündete. „Wir beide haben zusammen einfach eine halbe Milliarde, ist dir bewusst wie viel das ist? Also… was jetzt?“, fragte er dann.
Ich sah auf die Straße, wie die Regentropfen von einer Markise tropften. „Keine Ahnung“, gab ich ehrlich zu. „Vielleicht… nach Hause. Schlafen. Morgen drüber nachdenken.“
„Klingt nach nem Plan“, sagte Felix. Dann, nach einer Pause: „Ich werd feiern gehen und anfangen, das Geld auszugeben. Wir haben so viel, das wird vermutlich niemals weniger werden. Genieß es. Das ist dein Moment. Unser Moment, Bruder. Dafür haben wir so lange so hart gearbeitet.“
„Ja.“ Ich legte auf, aber die Worte hallten in mir nach: Genieß es.
Ich steckte die Hände tief in die Jackentaschen, zog den Kragen hoch und ging langsam los. Jeder Schritt klang auf dem nassen Pflaster viel lauter als sonst. Ich merkte, wie ich lächeln musste, obwohl mir gleichzeitig Tränen in die Augen stiegen.
Auf der Ecke blieb ich stehen. Da war dieser kleine Späti, in dem ich mir die letzten drei Jahre jeden Abend eine Flasche Wasser und manchmal eine Tüte Chips geholt hatte. Der Besitzer, ein älterer Mann mit grauem Bart, stand gerade vor der Tür und rauchte.
„Ah, der Herr Computer“, begrüßte er mich grinsend. „Schon wieder spät heute.“
„Ab jetzt nicht mehr“, sagte ich nur und grinste zurück. Ich nahm eine kleine Flasche Wasser aus der Kühlung, legte ihm 100€ auf die Theke und sagte: „stimmt so, mach’s gut“. Der Mann wollte es kurz nicht glauben, nahm das Geld aber und rief laut „danke, vielen Dank“ hinterher.
Als ich um die nächste Ecke bog, fing es wieder an zu regnen. Feiner Nieselregen, der sich sofort in meinem Haar und auf meiner Haut festsetzte. Es war mir egal. Im Gegenteil: Ich breitete die Arme aus und ließ es einfach auf mich herabprasseln, als wollte ich mit dem Regen all die Anspannung der letzten Jahre von mir abwaschen.
„Und jetzt?“, flüsterte ich wieder.
Und diesmal hörte ich in meinem Kopf schon die Antwort: Alles ist möglich.
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„Papa! Komm schon, wir warten!“ Die Stimme meiner Tochter reißt mich zurück ins Heute. Ich blinzele in die warme Morgensonne, die sich über unsere Terrasse legt, als wolle sie alles vergolden. Der Blick von hier oben ist atemberaubend: unter uns der glitzernde See, in der Ferne schneebedeckte Gipfel.
„Ja, ich komm ja!“ Ich lächle, lege das Handy beiseite und stehe auf.
Im Garten tobt schon das volle Leben. Mia, meine Frau, lehnt mit einem Glas Saft an der Reling der Terrasse und lächelt mir entgegen. Die Zwillinge jagen quietschend einem Fußball hinterher, während meine ältere Tochter in aller Ruhe versucht, den Frühstückstisch zu decken, ohne dass der Hund ihr das Brot klaut.
„Du siehst nach Arbeit aus“, ruft Mia mir zu. „Hast du wieder Mails gecheckt?“
„Nur kurz“, sage ich, etwas verlegen. Sie kennt mich zu gut. Es ist diese Mischung aus Verantwortung und Rastlosigkeit, die mich antreibt – und manchmal auch zerreibt.
Wir frühstücken draußen. Es gibt frisches Obst, knuspriges Brot und dampfenden Kaffee. In der Lift liegt der Duft von Butter und Marmelade. Ich sehe in die Gesichter meiner Familie und spüre dieses warme Gefühl, das mir immer noch neu vorkommt. Nicht das Geld macht glücklich – aber es macht es leichter, sich die Zeit zu nehmen, die man vorher nicht hatte.
„Papa?“ Die Zwillinge stehen plötzlich neben mir, mit roten Wangen und glänzenden Augen. „Fahren wir nachher mit dem Boot raus?“
Ich nicke. „Klar, wenn ihr vorher eure Hausaufgaben macht.“
„Hausaufgaben?!“ empören sie sich im Chor, und ich muss lachen.
—
Der Tag zieht sich in sanftem, goldenem Licht dahin. Nach dem Frühstück verabschiedet sich Mia für ihre Yoga-Stunde, und ich setze mich ins Büro. Der Schreibtisch hier im Haus ist heller und großzügiger als damals unser ganzes Start-up-Büro. Auf den Regalen stehen Pokale, Dankesbriefe, Fotos von den ersten harten Jahren.
Ich setze mich und öffne den Laptop. Ein Video-Call steht an, ein Board-Meeting für eine neue Investition. Seit dem Verkauf des Unternehmens vor knapp 5 Jahren habe ich mich neuen Projekten gewidmet. Allerdings mehr als Ideengeber und Investor, ich helfe anderen Start-Ups, von deren Idee ich überzeugt bin, und gebe finanzielle Mittel frei um mehr Reichweite zu erreichen, weniger Herstellungskosten zu tragen und mehr Personal einstellen zu können. Um das zu erleichtern, was uns damals den Anfang so schwer gemacht hat.
„Leo“, sagt eine Stimme aus dem Lautsprecher. „Wenn du hier zustimmst, kannst du den Vertrag heute noch unterschreiben.“
Ich lehne mich zurück und atme durch. Früher hätte ich sofort „ja“ gesagt. Heute überlege ich länger. Ich denke an Mia, an die Kinder, an das Boot, das unten am Steg wartet.
„Ich melde mich morgen früh“, sage ich schließlich. „Ich will noch eine Nacht drüber schlafen.“
Ein kurzes Schweigen, dann zustimmendes Nicken.
Der Bildschirm wird schwarz, und für einen Moment starre ich in mein eigenes Spiegelbild im glänzenden Monitor. Ich klappe den Laptop zu, schiebe den Stuhl zurück und bleibe sitzen. Durch das offene Fenster weht der Duft von frisch gemähtem Gras herein, irgendwo schreit eine Möwe, und aus dem Garten hört man die Zwillinge lachen.
Ich stehe auf, streife das Jackett ab und hänge es über die Stuhllehne. Meine Schritte hallen leise auf dem Parkett, als ich durch den Flur gehe. An der Wand hängen noch mehr Fotos – Mia und ich auf unserer ersten Reise, die Kinder mit Sand an den Füßen, der Tag der Unternehmensgründung.
Im Bad spritze ich mir kaltes Wasser ins Gesicht, blicke kurz in den Spiegel und muss schmunzeln. Noch vor ein paar Jahren hätte ich jetzt hektisch den nächsten Call vorbereitet, Mails beantwortet, Zahlen gewälzt. Heute nicht mehr. Heute habe ich etwas Wichtigeres vor.
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Ich trete aus der Terrassentür, und der Weg zum See liegt vor mir wie eine Einladung. Er zieht sich in sanften Kurven den Hügel hinunter, abwechselnd über gepflasterte Abschnitte und breite Holzstufen, die leise unter meinen Schritten knarren.
Links und rechts blühen Rosen, Hortensien und Lavendel in satten Farben, der Duft hängt süß und schwer in der warmen Luft. Hier und da flattert ein Schmetterling auf, und der Wind lässt die Blätter der Buchsbaumhecken leise rascheln.
Schon nach den ersten Stufen höre ich sie: das fröhliche Kreischen der Zwillinge, die auf dem Boot herumturnen, ihr ausgelassenes Lachen, das über den Garten heraufweht. Dazwischen die helle Stimme meiner älteren Tochter, die versucht, sie zu bändigen und dabei selbst kichert. Und dann Mias ruhiges Lachen, ein sanfter Klang, der mich immer noch jedes Mal innehalten lässt.
An der alten Holzbank bleibe ich kurz stehen, lege die Hand auf die sonnenwarme Lehne und blicke nach unten. Da sind sie alle: Mia, barfuß im Sand, der Strohhut tief ins Gesicht gezogen, winkt zu mir hoch. Die Zwillinge zappeln vor Aufregung auf dem Boot, während ihre große Schwester ihnen liebevoll den Rücken streicht, als würde sie versuchen, die beiden kleinen Wirbelstürme zu erden. Das sind die Momente, für die ich immer alles geben würde, für die ich auf Ewigkeiten dankbar sein werde.
Ich atme tief ein, spüre, wie die Anspannung von meinen Schultern fällt, und lächle. Mir kommen fast die Tränen vor Glückseligkeit. Noch ein paar Stufen, denke ich, und ich bin bei ihnen.
Letztes Jahr im Frühling haben wir uns den Traum vom eigenen Boot erfüllt. Wir fahren seit dem fast jeden Tag auf den See, die Kinder lieben es, den ganzen Tag im und auf dem Wasser zu spielen.
Das Boot ist ein elegantes, langgezogenes Motorboot mit glatten, weiß lackierten Seiten, die im Sonnenlicht blenden. Auf dem Deck gibt es reichlich Platz: breite Sitzbänke mit weichen, hellgrauen Polstern ziehen sich an beiden Seiten entlang, in der Mitte ein kleiner Tisch aus Holz, an dem man bequem essen oder Karten spielen könnte. Edelstahlgeländer glänzen rundum, und am Heck führt eine kleine Badeplattform direkt ins Wasser.
Unter Deck öffnet sich eine gemütliche Kajüte. Eine kleine Treppe führt hinunter in den kühlen Schatten, wo eine kompakte Küche mit glänzenden Schränken und einem Edelstahlspülbecken wartet. Daneben steht eine Sitzecke mit dunkelblauen Polstern, die sich mit ein paar Handgriffen in zwei Betten verwandeln lässt. Ein schmaler Gang führt noch weiter nach hinten zu einem kleinen Badezimmer, komplett mit Dusche und Waschbecken, überraschend hell durch ein rundes Bullauge, durch das das Wasser draußen schimmert.
Draußen auf dem See wirkt es wie ein schwimmendes Wohnzimmer – geräumig, sicher und doch elegant genug, um fast lautlos übers Wasser zu gleiten.
„Also los, Captain“, sagt Mia mit einem Augenzwinkern und reißt mich aus meinen Gedanken.
Ich steige ein, wir lassen den Motor an und das Boot gleitet sanft hinaus auf den See. Der Wind zupft an meinem Hemd, die Kinder kreischen vor Freude, als kleine Wellen über die Reling spritzen. Ich drehe mich um und sehe Mia, die entspannt im Bug sitzt, die Augen geschlossen, die Sonne im Gesicht.
„Papa?“ fragt meine ältere Tochter nach einer Weile, diesmal leise, fast zögerlich. Wir sitzen alle auf dem Boot, das leise über den glitzernden See gleitet. Ich halte das Steuer, während die Zwillinge am Bug sitzen und mit den Händen durchs Wasser pflügen, und Mia hat die Augen geschlossen, die Sonne im Gesicht.
„Wie sind wir eigentlich… also… so reich geworden?“
Ich muss lächeln. Diese Frage kommt immer wieder.
„Es war… viel harte Arbeit“, sage ich und sehe weiter aufs Wasser. „Und ein bisschen Glück.“
„Nur Glück?“ fragt sie nach, die Stirn in Falten gelegt.
Mia öffnet die Augen, dreht den Kopf und mischt sich ein. „Nein“, sagt sie, mit dieser ruhigen Bestimmtheit in der Stimme. „Dein Vater hat jahrelang geschuftet, während andere schon schliefen. Immer an die Idee geglaubt. Und als dann der richtige Moment kam, waren Felix und er bereit.“
Ich nicke. „Man muss dafür brennen“, sage ich. „Man muss durchhalten. Vor allem dann, wenn es am schwersten ist.“
„War es oft schwer?“ fragt einer der Jungs.
„Ja, das gehört zum selbstständig sein dazu. Aber ich habe es nie bereut. Und mit Felix an der Seite wird jede noch so schwere Situation viel erträglicher“ sage ich.
Plötzlich vibriert mein Handy auf dem Tisch neben mir. Ein Videoanruf. Ich sehe aufs Display – und muss lachen.
„Wenn man vom Teufel spricht“, murmle ich.
Ich wische über den Bildschirm, und schon füllt sein Gesicht den kleinen Rahmen. Sein Haar steht in alle Richtungen, wie immer, sein Grinsen breit, wie immer.
„Na, ihr Seebären!“, ruft er laut aus dem Telefon. „Ich hoffe, ihr lasst euren alten Onkel nicht schon wieder allein im Büro hocken, während ihr hier auf dem Wasser rumlungert?“
„Onkel Felix!“ kreischen die Zwillinge, springen auf und rennen so schnell sie können zum Telefon. Selbst Mia lacht und winkt in die Kamera.
Felix und ich kennen uns seit dem ersten Semester. Er saß in der letzten Reihe, schon damals mit diesem unverschämten Grinsen, das jeden Raum heller machte. Wir haben beide schnell gemerkt, dass Vorlesungen nichts für uns waren. Schon nach wenigen Wochen beschlossen wir, das Studium zu schmeißen und stattdessen unser eigenes Ding zu starten – mit nichts außer einer wackeligen Idee, einer Menge Mut und dem festen Glauben, dass es schon irgendwie klappen würde. Felix hat diesen Glauben immer mitgebracht. Immer. Selbst in den dunkelsten Nächten hat er einen Witz gefunden, der die Stimmung rettete.
„Also“, sagt er jetzt, „ich dachte mir, ich komme mal vorbei. Wir haben uns bestimmt 4 Tage nicht mehr gesehen, ich vermisse euch schon ziemlich. Und ich hab was tolles für euch.“ Er hält etwas in die Kamera, zu schnell, als dass ich es erkennen könnte. „Bin in einer halben Stunde am Steg. Macht euch bereit!“
„Jaaa!“ schreien die Kinder und hüpfen fast vom Boot ins Wasser vor Freude.
Ich lache und schüttele den Kopf. „Du bist unmöglich.“
„Und genau deswegen liebst du mich“, zwinkert er. Dann legt er auf.
Ich lege das Handy weg und sehe zu Mia, die nur schmunzelt, während die Kinder schon anfangen, sich auszumalen, was ihr Onkel ihnen diesmal mitbringt. Ich lehne mich zurück, atme tief durch und lasse meinen Blick über den See gleiten.
„Na dann, fahren wir wohl wieder zurück und holen Felix ab“ rief ich, drosselte etwas den Motor, lenke mit dem Steuerrad scharf nach rechts und wir fuhren wieder in Richtung Zuhause.
Wir legen am Steg an und noch bevor ich das Boot wieder richtig fest gemacht hatte, sprangen die Kinder schon von Bord. Die Sonne steht inzwischen tief, und das Licht auf dem Wasser ist warm und golden. Die Kinder zappeln vor Aufregung, springen durcheinander rufend im Kreis.
„Wann kommt er endlich?“, fragt einer der Zwillinge atemlos.
„Gleich“, sage ich und sehe die schmale Treppe den Hügel hinauf.
Und da ist er.
Felix.
Schon von Weitem hört man ihn, bevor man ihn sieht: er begrüßt immer lautstark die Gärtner und das Hauspersonal, kurz danach hört man ihn unten am Steg rufen: „Haaaallo, ihr Landratten!“ Und dann taucht er hinter der letzten Biegung auf – barfuß in Bootsschuhen, ein zerknittertes weißes Hemd, Ärmel hochgekrempelt, eine riesige, bunte Kühlbox unterm Arm und einen Drachen auf der Schulter, den die Kinder sofort erkennen.
„Ein Drachen!“ ruft meine Tochter, und die Zwillinge rennen ihm entgegen, noch bevor er die letzten Stufen genommen hat.
„Der beste Drachen der Welt“, sagt Felix feierlich, als er ihn vorsichtig vom Rücken hebt und ihn vor den Kindern ausbreitet. „Selbst getestet. Fliegt wie ’ne Eins.“
Die Zwillinge hüpfen um ihn herum, meine Tochter lacht und schüttelt den Kopf, und selbst Mia kann nicht anders, als zu lächeln, als er endlich den Steg erreicht.
„Na“, sagt er, als er mich sieht, und streckt mir die Hand hin – zieht mich dann aber gleich in eine Umarmung. „Du siehst so aus, als hättest du mich vermisst.“
„Immer“, sage ich, und das meine ich auch so.
Er stellt die Kühlbox ab, klappt sie auf und holt Limonade, Eis und ein paar kleine Leckereien heraus. „Damit ihr nicht verhungert, während ich euch noch zeige, wie man diesen Drachen hier richtig fliegen lässt“, erklärt er und zwinkert den Kindern zu.
„Onkel Felix, du bist der Beste!“ ruft einer der Zwillinge und hängt sich an sein Bein.
„Sag ich doch“, sagt er, als wäre das selbstverständlich, und der ganze Steg lacht.
Für einen Moment bleibe ich einfach stehen, sehe zu, wie Felix die Kinder in seinen Bann zieht, wie Mia ihn mit einem warmen Blick beobachtet, wie die Sonne hinter dem See in den Bergen versinkt und alles in goldenes Licht taucht.
—
Am Abend sitzen wir wieder auf der Terrasse. Der Himmel über dem See ist ein Feuerwerk aus Orange, Rosa und Gold. Wir essen Pasta aus tiefen Tellern, trinken den frischen, leicht gekühlten Traubensaft aus den eigenen Weinbergen. Die Kinder haben sich schon längst ins Haus zurückgezogen, müde vom Tag, vom Drachensteigen, vom Lachen mit Felix.
Es ist still geworden, nur die Grillen zirpen, irgendwo plätschert Wasser gegen den Steg.
Felix sitzt uns gegenüber, die Füße auf der Brüstung, sein Hemd noch zerknitterter als am Nachmittag, ein Glas Saft in der Hand. Er sieht zufrieden aus – so wie immer.
„Du denkst wieder zu viel“, sagt Mia irgendwann, ohne den Blick vom See zu nehmen.
„Ja“, gebe ich zu. „Dieser neue Deal… er wäre gut fürs Portfolio, aber…“
„Aber?“ fragt sie.
„Aber ich frage mich, wie viel genug ist.“
Felix hebt jetzt den Kopf und sieht mich an. Sein Grinsen ist weicher als sonst. „Die Frage stellst du dir endlich, hm?“ sagt er leise. „Wurde auch Zeit.“
Ich sehe ihn an. „Du hast sie dir nie gestellt.“
Er lacht, schüttelt den Kopf. „Doch. Oft. Ich hab nur schneller beschlossen, dass ich lieber mehr vom Leben will als von der Bilanz.“ Er lehnt sich zurück, blickt in den Abendhimmel. „Geld ist wie Salz. Ein bisschen macht alles besser. Zu viel versaut dir den Geschmack.“
Mia nickt langsam und legt ihre Hand auf meine. „Du hast nicht nur für das Geld gearbeitet. Du hast dir auch das Recht verdient, das Leben zu genießen.“
„Da hör auf sie“, mischt sich Felix ein. „Die Frau hat immer recht. War schon immer so.“ Er zwinkert Mia zu, und sie lacht.
„Immer“, sagt sie mit einem Grinsen.
Wir lachen alle drei, und für einen Moment ist da nur das Zirpen der Grillen, das leise Klirren der Gläser, der Duft von warmem Wein und frischer Pasta.
Felix stößt sich schließlich von der Brüstung ab, stellt sein Glas ab und klopft mir auf die Schulter. „Ich fahr dann gleich“, sagt er, und sein Ton ist weicher geworden. „Aber eins sag ich dir noch, Leo: Du bist schon längst angekommen. Du musst nur noch lernen, es zu merken.“
Ich sehe ihm nach, als er ins Haus geht, um seine Sachen zu holen, und drehe mich wieder zu Mia.
„Er hat recht“, sagt sie leise.
„Wie immer“, murmele ich, und wir sehen beide hinaus auf den See, während der letzte Rest Sonne hinter dem Horizont verschwindet.
Wenig später gehen Mia und ich noch mit vors Haus, um Felix zu verabschieden. Die Luft ist mild, der Vorgarten duftet nach Lavendel und warmem Stein.
Er wirft seine Tasche lässig auf den Rücksitz seines Mercedes Oldtimer-Cabrios — dunkelsilber, mit verchromten Spiegeln, das Leder glänzt im Schein der Einfahrt. „Na, dann“, sagt er und streicht sich durchs zerzauste Haar, „haltet mir den Platz hier warm.“
„Fahr vorsichtig“, sage ich.
„Ich immer“, grinst er, steigt ein und startet den Motor, der tief und satt aufbrummt.
Er fährt langsam die Auffahrt hinunter, die Scheinwerfer streifen die Blumenbeete. Kurz bevor er das Grundstück verlässt, dreht er sich noch einmal um, lehnt den Arm über die Tür und winkt uns lachend zu. „Bis bald, ihr zwei!“ ruft er, bevor er wieder aufs Lenkrad schaut.
Der Pförtner tritt schon aus seinem kleinen Häuschen und öffnet das schwere schmiedeeiserne Tor für ihn. Felix hält kurz an, streckt ihm die Faust entgegen. Der Pförtner lacht, beugt sich vor und schlägt ein. Dann beschleunigt Felix, der Mercedes gleitet hinaus in die Nacht, und der Klang seines Motors wird leiser und leiser, bis nur noch Stille bleibt.
Ich lege Mia den Arm um die Schultern, und wir sehen noch einen Moment dem leeren Weg hinterher. Irgendwie fühlt sich selbst der Abend jetzt ein kleines Stück heller an.
Zwischen Himmel und Erde, irgendwo hier dazwischen – genau hier bin ich zu Hause.